Pilgern auf dem Kumano Kodo
Was ist denn jetzt Kumano Kudo schon wieder?
Der Kumano Kudo (熊野古道, quasi: Alter Weg von Kumano) ist ein Netz uralter Wanderwege, das die Kii-Halbinsel durchzieht. Die Kii-Halbinsel ist der halbkreisförmige Bereich unterhalb von Osaka und Kyoto, etwa mittig auf Honshu. Hier befinden sich mit Nara und Kyoto gleich zwei ehemalige Hauptstädte Japans und hier hat die Musik gespielt, bevor Tokio in der Edo-Zeit zum neuen Zentrum Japans wurde. Die Wege auf der Kii-Halbinsel wurden seit Jahrhunderten als Handeslrouten und später dann auch als Pilgerrouten zu den wichtigsten Schreinen der Region genutzt. Seit 2004 sind einige der Wege UNESCO Weltkulturerbe und es gibt eine lustige Patenschaft mit dem Jakobsweg. Wenn man auf beiden Wegen genug Stempel gesammelt hat, bekommt man eine schicke Urkunde und an beiden Orten eine kleine Zeremonie. Nicht so meins, aber nette Idee.
Die Planung
Ich habe lange und viel im Internet herumrecherchiert, ob ich mir das Abenteuer wirklich antun möchte. Und am Ende gab dann das fiese "Wenn ich es jetzt nicht mache, ärgere ich mich hinterher" den Ausschlag. Also versucht, irgendwie einen Plan zusammenzubasteln. Die meisten Leute empfehlen, die beliebteste Route in vier bis sechs Etappen von Ost nach West einmal durch die Halbinsel zurückzulegen. Von Ost nach West wohl deshalb, weil die östlichste Etappe in diese Richtung um einiges weniger anstrengend sein soll. Da aber am östlichsten Punkt der Strecke mit der Pagode des Seigantoji und direkt dahinter den Nachi-Wasserfällen einer der in meiner Vorstellung schönsten Orte Japans liegt, kam das für mich aber nicht in Frage. Dann jedoch ein echter Rückschlag: Durch mein Zögern waren wenige Wochen vor meiner Abreise an zwei der drei Zwischenstationen bereits alle Unterkünfte ausgebucht. Ich hatte echt einiges recherchiert, mir einen ersten Plan gemacht und mich dann überzeugt, dass ich das wirklich machen möchte. Und jetzt scheitert es an sowas? Wie doof. Naja, dann eben nicht.
Der Alternativplan
Aber es hat mich dann doch nicht losgelassen. Vielleicht kann ich ja wenigstens die letzte, schönste Etappe zur Pagode mit dem Wasserfall irgendwie machen? Mehr oder weniger zwischen dem Startpunkt der Etappe in Koguchi (ein Nest mit ein paar Dutzend Häusern in den Bergen) und dem Endpunkt Nachi (Wasserfall und Pagode) gibt es einen Ort namens Shingu, immerhin knapp 30.000 Einwohner. Und in der Nähe des Bahnhofes gab es tatsächlich noch ein Zimmer in einer leicht abgeranzten Unterkunft namens Hase (kein Scherz!) Ryokan. Vom Bahnhof fährt ein Bus früh morgens nach Koguchi. Und mit Bus und Bahn kommt man halbwegs gut von Nachi wieder nach Shingu. Und wenn ich doch kneifen sollte oder das Wetter scheiße ist, kann ich ja einfach direkt nach Nachi und das Wandern überspringen. Ein guter Alternativplan mit einem Alternativplan.
Auf nach Shingu!
Die Anreise war ziemlich umständlich. Denn schließlich saß ich ja noch im Norden Japans auf Hokkaido. Also schnell zum Flughafen und nach Osaka fliegen. Durch etwas Getrödel, Fehlplanung und ungünstige Bahnfahrzeiten habe ich es fast geschafft, das erste Mal in meinem Leben einen Flieger zu verpassen. Ich war keine 40 Minuten vor Abflug am Flughafen. Der Flughafen ist jetzt nicht so groß, aber mein geschätzter Billigflieger Jetstar saß wirklich in der allerletzten Ecke des Terminals. Im Sprint am Check-In-Schalter angekommen, bin ich direkt nach vorne, da die Schlange doch ziemlich lang war. Ob ich denn schnell... Nach Osaka? Mal ganz entspannt, bitte hinten anstellen. Das passt schon. Ging dann auch wirklich erstaunlich schnell und 15 Minuten vor dem Abflug hatte ich die Security hinter mir (wie fast überall auf der Welt wird da auch nicht so ein nerviger Zauber veranstaltet wie bei uns, sogar Getränke darf man mitnehmen). Und schließlich ging es mit einer Handvoll weiterer Trödelheinze mit einem Bus zum bereits wartenden Flieger. Uff.
Der Flughafen von Osaka ist ein auf einer künstlichen Insel am Stadtrand Osakas ins Meer gepflanztes Riesending. Von dort ging es mit dem Zubringer aufs Festland. Dort trennte ich mich dann von fast allen Mitreisenden. Während die nach Norden in Richtung Osaka weiterfuhren, ging es für mich mit einem Lokalzug nach Süden in Richtung Wakayama. Und von dort mit einem noch kleineren Zug weitere drei Stunden eine wunderschöne Strecke am Pazifik entlang außen um die Kii-Halbinsel bis nach Shingu. Als ich dort ankam, war es bereits dunkel. Ich hätte von Shingu also auch nicht mehr viel sehen können, wenn es etwas zu sehen gegeben hätte.
Wandern oder nicht wandern?
Die Unterkunft war schnell gefunden und sah genau so aus, wie auf den Fotos. Es war aber alles absolut sauber und roch angenehm. Das sollte dann also meine erst Nacht in einem Ryokan sein. In einem Ryokan zieht man am Eingang die Schuhe aus und trägt Hauspuschen. Auf der Toilette wechselt man in die dort bereit stehenden Toilettenpuschen. Und danach wieder in die Hauspuschen. Vergisst man das, wird man von Japanern ausgelacht. Ist mir nicht passiert, aber ist halt ein Ryokan-Klassiker. Die Japaner machen in einem Ryokan in der Regel Wellness. Nachdem man die Straßenschuhe am Eingang abgelegt hat, legt man im Zimmer die Straßenkleidung ab und schlüpft in einen bereitgestellten Schlafanzug. Im Bademantel (und hoffentlich nicht Toilettenpuschen) geistert man dann durch das Hotel. Meist gibt es ein Onsen (also ein heißes Bad) und einen Gemeinschaftsraum, in dem man dann mit anderen Pyjamaträgern die japanische Version von Wetten Dass oder Takeshi's Castle guckt. Gegessen wird gemütlich auf dem Zimmer und dann geht es zeitig in's Futon-Bett.
Für all das hatte ich natürlich gar keine Zeit. Und zum Glück machte die Qualität der Unterkunft den Verlust auch nicht allzu groß. Ich hatte eine Entscheidung zu treffen: Wandern oder nur Bus? Die von mir gewählte Etappe in West-Ost-Richtung hatte einen ordentlichen Ruf. Etwa 16 Kilometer waren zu bewältigen, dabei 1260 Meter steigen und 930 Meter fallen. Und das alleine ist noch nicht der Grund, wieso die meisten Leute die Strecke lieber in die andere Richtung nehmen. Auf den ersten 4,5 Kilometern geht es nur steil bergauf und man macht etwa 800 Höhenmeter. Die Steigung nennt man in Japan liebevoll Körperbrechersteigung. Aber was sind schon Namen. Als Wanderzeit für die Strecke werden sieben bis neun Stunden angegeben. Und in Rot gibt es Warnhinweise, bloß früh genug anzufangen. Auf der Strecke gibt es nicht nur keinerlei Verpflegungsstationen, sondern auch natürlich kein Licht. Man möge also bitte spätestens um 8 Uhr loswandern (für beide Richtungen wohlgemerkt). Da passte es super, dass der erste Bus nach Koguchi um Punkt 8 Uhr in Koguchi ankommen sollte. Wäre die Frage schon mal geklärt. Blöd ist nur, dass es in Japan generell recht früh dunkel wird und das im Winter nicht besser wird. Das Internet sagt, dass die Sonne in der Region an meinem Wandertag gegen halb fünf untergehen sollte. Na, prächtig. Aber gut, die Warnungen richteten sich bestimmt an Rentner, Beinamputierte und Schnecken. Ich habe mich zwar jetzt nicht wirklich auf die Wanderung vorbereitet, außer gedanklich. Aber, äh, ich habe ja früher mal gewandert. Und Sport gemacht. Und ich kann kämpfen. Außerdem habe ich für Notfälle eine Taschenlampe dabei. Und Bären gibt es in der Region auch keine. Ach, 2017 hat ein durch einen Taifun verursachter Erdrutsch einen Teil der Strecke unpassierbar gemacht. Die Umleitung macht die Strecke nochmal etwa 30 Minuten länger.
Zu allem Überfluss hatte ich mir auf Hokkaido bei all dem Gewinde eine Erkältung eingefangen. Die Nase lief (Bloß keine Taschentücher benutzen! Die Japaner kotzen sonst.) und ich hatte einen trockenen Husten. Vielleicht frage ich doch mal den Herbergsvater vom Hase Ryokan nach seiner Meinung. In sehr schlechtem Englisch und auf zurückhaltend japanische Art sagt er mir, was er von meinem Plan hält. Nicht so viel. Sehr anstrengend, sehr weit, lieber Bus. Apropos Bus. Vielleicht sollte ich mal auschecken, wo denn der Bus fährt. Direkt am Bahnhof, der von mir recherchierte Fahrplan war auch noch aktuell. Und außer mir stromerten noch zwei recht drahtig aussehende Japaner um die Haltestelle und waren ebenfalls am 8-Uhr-Bus nach Koguchi interessiert. "Kumano Kodo ikkitai ka?" - "Hai! Hai! Nein, kein Englisch". Gut, Ihr mich auch. Aber wenn Ihr das könnt, dann kann ich das auch. Vielleicht.
Also, wenn ich das wirklich machen möchte, brauche ich wohl Proviant. Und den kauft man am besten im örtlichen Conbini. Zwei Liter Flüssigkeit, halb Wasser, halb Zaubertrank wie Poccari Sweat. Und ein Kaffee als Schnellstarter. Sandwich, zwei Onigiri, eine Banane, Schokolade und einen der vielen, ziemlich ekelhaft schmeckenden Energieriegel aus Spaß. Vielleicht auch nicht übertreiben, ich muss den ganzen Quatsch ja schließlich vor allen Dingen die Körperbrechersteigung hochtragen. Und um einigermaßen entspannt den Bus erreichen zu können, muss ich gegen 6 Uhr aufstehen. Also zeitig ab auf's Futon.
Ich muss sagen, das mit dem Futon hatte ich mir schlimmer vorgestellt. Dafür war die Erkältung alles andere als besser geworden. Ob mir mein Körper damit vielleicht sagen möchte, dass er das alles ziemlich doof findet? Naja, wer hört schon auf seinen Körper. Das tun doch maximal vernünftige Leute. Aber so ganz geheuer war es mir wirklich nicht. Ich will nicht im Wald übernachten, schon lange nicht mit einer Erkältung. Aber ich hatte ja eine Taschenlampe dabei. Wirklich überzeugend fand ich: Wenn ich mich jetzt wieder schlafen lege, ärgere ich mich tagelang. Also wenigstens mal mit dem Bus nach Koguchi fahren und die Lage checken. Und wenn der Körperbrecher dann den Körper bricht, rutsche ich halt den Berg wieder herunter und fahre zurück zum Hasen.
Mit unangenehm schwerem Gepäck (wie gesagt zwei Liter Flüssigkeit, Essen, schwere Kamera, Regenjacke, Taschenlampe,...) ging es dann hustend und schnupfend in Richtung Bus. Immerhin war es schon hell und angenehm, nicht zu kalt, aber vor allen Dingen auch nicht zu warm. An der Bushaltestelle warteten natürlich schon meine beiden japanischen Wanderfreunde vom Vorabend. Immerhin bin ich nicht der einzige, der verrückt genug ist. Und wir sollten auch nicht nur zu dritt bleiben: Ein nicht sonderlich asiatisch aussehender, junger Typ kam auch noch zur Haltestelle. Wir kamen gleich in's Gespräch. Er war Däne, machte gerade ein paar Monate Urlaub in Japan und will nächstes Jahr hier hinziehen und studieren. Fließend japanisch spricht er auch bereits und hat die ersten drei Etappen Kumano Kodo schon hinter sich. Weil er aber in Koguchi keine Unterkunft mehr gefunden hat, hat er in Shingu gepennt. Hurra, es werden immer mehr Opfer! Er erzählt, dass die bisherigen Etappen schon recht anstrengend waren. Und bei einer hatte er sich total verschätzt. Die drei vorigen Etappen bestehen aus fünf Einzelteilen, die teils so kurz sind, dass man mehr als eine am Stück schafft. Und da hat er wohl die falschen zwei zusammen gemacht, war dann 30 Kilometer unterwegs und war wirklich im Dunkeln noch im Wald. Er sagt, das ging aber mit der Handy-LED ganz gut. Immerhin haben wir also jetzt jemanden dabei, der im Notfall auch noch weiter weiß.
Im Bus berichtete er außerdem, dass wir beim Umsteigen auf dem Weg nach Koguchi noch auf drei weitere nicht-japanische Wandersleute treffen werden, die er am Vortag kennengelernt hat. Die laufen alle irgendwie für sich alleine, aber auch gerne mal ein bisschen zusammen. Und alle haben ein ordentliches Tempo drauf. Das ist ja eigentlich genau das, was ich gebrauchen kann. Ich muss mich also nur irgendwie an die dranhängen, dann habe ich gute Chancen, den Wald bei Tageslicht verlassen zu können. Die Leute waren auch allesamt nette Leute, ein Engländer, eine Engländerin und ein Australier. Sieben Pilger waren wir dann also heute auf der West-Ost-Richtung. Der Bus schlängelte sich gemütlich durch die ersten Hügel, vorbei an malerischen, nebligen Wäldern und die Stimmung war entspannt und ausgelassen. Der Australier war gut vorbereitet und hatte ebenfalls von der Körperbrechersteigung gelesen. Den anderen war es herzlich egal.
Um Punkt acht Uhr waren wir dann tatsächlich in Koguchi, einem aus ein paar Häuschen und einem Campingplatz bestehenden Nichts. Irgendwo standen ein paar Schilder mit der Aufschrift "Kumano Kodo" ab ging die Post. Das Tempo der Nicht-Japaner war wie angekündigt relativ hoch. Zumindest hoch genug, um die beiden Japaner schnell hinter uns zu lassen. Der Engländer ließ es ebenfalls etwas ruhiger angehen und so hielt ich mich an die drei anderen. Nach einem sehr kurzen Stück über asphaltierte Straßen kamen wir an eine Treppe und es ging richtig los. Wir waren im Wald, der Weg bestand im Grunde genommen nur noch aus antiken, halb verfallenen, immer irgendwie unterschiedlich großen Treppenstufen und es gab nur zwei Richtungen: Vorwärts und aufwärts!
Die Steigung war tatsächlich unerbittlich und brutal. Obwohl es im Wald immer noch etwas nebelig und frisch war, konnte ich nach wenigen Minuten im T-Shirt laufen. Und wenige Stufen später floss der Schweiß in Strömen. Der Rest der Bande steckte diese ersten Anstrengungen deutlich besser weg. Das Feld zog sich etwas in die Länge, aber wir hatten meist weiterhin zumindest Sichtkontakt. Alle paar hundert Meter gab es irgendwas zu gucken, sei es ein Gedichtstein, ein kleiner Buddha-Schrein oder eine historische Stelle. Die führenden warteten dort immer mal, weshalb wir die ersten zwei Kilometer ziemlich dicht zusammen blieben. Allerdings musste man schon feststellen, dass bis auf ein Gruppenmitglied alle wie junge Gemsen die Steinstufen empor tänzelten. Und einer schnaufte eher wie eine rostige, alte Dampflok. Man konnte die unaugesprochenen Gedanken der anderen förmlich sehen: Na, ob der sich das so gut überlegt hat? Halbwegs, immerhin halbwegs.
Wenige hundert Meter später - es ging weiterhin einfach stumpf Treppenstufe um Treppenstufe hoch - musste ich dann abreißen lassen. Wir hatten allerdings die anderen so weit hinter uns gelassen, dass ich von nun an komplett alleine im Wald war. Die Morgensonne zwielichtete durch die riesigen Bäume, es roch feucht und moosig und außer Blätterrauschen, Vögeln und Insekten sowie Wasserfällen in der Ferne war nichts zu hören. Kein quäkier Deutschrap-Scheiß auf dem Handy eines Halbstarken, keine frisierte Prollkarre, kein Gelaber, nichts. Nur die Natur und ich. Wenn es nur nicht so anstrengend wäre, es wäre wundervoll. Mittlerweile schmerzten auch die Beine ziemlich. Und die eh schon spärliche Puste war so gut wie aufgebraucht. Die Lunge fühlte sich auch nur so halbgut an mit der Erkältung. Hm. Aber schon ganz schön weit gekommen. Ob ich doch besser umdrehen soll? Ne, aufgegeben wird nicht. Also weiter. Ein Schritt nach dem anderen und irgendwann bin ich am Wasserfall. Ich versuchte nun, ein wenig zu variieren. Die großen Stufen nicht immer mit dem linken Bein, das sich mittlerweile deutlich beklagte. Vielleicht auch mal den großen Stufen ganz aus dem Weg gehen. Mal auf den Wurzeln versuchen? Keine gute Idee. Oder ein bisschen Schlangenlinien, das verlängert zwar den Weg, aber verringert die Steigung. Am Ende half es alles nichts, ich war platt. Der halbe Körperbrecher hatte für mich augereicht. Es ging nicht mehr weiter. Natürlich war gerade keine adäquate Raststelle greifbar, aber zum Glück gab es ja jede Menge Stufen zum Hinsetzen. Hinsetzen war auf meiner aktuellen Bedürfnisliste ganz weit oben. Und dann mal überlegen, wie es weiter gehen soll. Vielleicht ist es eine gute Idee, ein wenig Marschgepäck wegzutrinken. Danach fliege ich doch bestimmt den Berg hinauf. Die Halbliterflaschen Rich Green Tea haben mich ja bereits letztes Jahr in Fukuoka vor der Kernschmelze bewahrt. Und auch hier waren sie wieder ein Segen. Und auch wenn ich immer noch total kaputt war, konnte ich die Natur endlich voll und ganz genießen. Ich habe sogar ein Video gemacht, das ist aufgrund der Lichtverhältnisse und meiner mangelhaften Videokünste eher etwas naja geworden, gibt aber vermutlich einen guten Einblick:

Was mich erstaunte: Ich habe dort mindestens fünf Minuten gehockt. Aber von den Nachzüglern war immer noch niemand an mir vorbei gekommen. Entweder sind die bereits alle gestorben oder unser Tempo muss wirklich ziemlich ordentlich gewesen sein. Gute Neuigkeiten, und auch Beine und Lunge hatten sich ein bisschen erholt. Also erstmal doch noch nicht umdrehen, sondern mal schauen, wie weit ich noch komme.
Bergankunft
Um es kurz zu machen: Ich pfiff und schnaufte nahe am letzten Loch auf den Gipfel. Der war hier kein spektakuläres Gipfelkreuz, es gab kein Gipfelbuch und auch kein Skiwasser. Nur ein bemooster Stein im Wald und eine Info-Tafel. Mir war es herzlich egal, ich war glücklich. Ab jetzt ging es zumindest hauptsächlich nicht nur mit mir, sondern auch mit der Strecke bergab. Und um den Kalauer auch noch schnell hinterherzuschieben: Ich war über den Berg. Denn diese Stelle war tatsächlich der höchste Punkt der Etappe. Körperbrecher am Arsch! Es gab zwar noch weitere Steigungen und erbarmungslose, krumme Treppen, aber nichts davon war im Ansatz so anstrengend. Auf halbwegs ebener Strecke erholte ich mich zügig und konnte wieder ordentlich Tempo machen, sodass ich irgendwann gar nicht allzu weit entfernt die Vorhut sehen konnte. Ich war wieder bester Dinge.
Nach ein paar Kilometern durch wunderschöne, nicht allzu herausfordernde Pfade erreichte ich dann die Umleitung. Laut Schild sollte diese die Strecke doch nur 20 Minuten verlängern. Bei meinem aktuellen Tempo ja wohl keine 10 Minuten. Mal schauen. Die Umleitung war dann allerdings nicht ganz ohne. Was ich schon befürchtet hatte, natürlich ist so eine Umleitung nicht die erste Wahl der Streckenführung. Und so ging es allzu häufig über Wege, an deren einer Seite es unangenehm steil bergab ging. Und sowas kann ich mit meiner Höhenangst wirklich überhaupt nicht ab. Man muss schon sagen, ich hab echt nicht mehr alle Tassen im Schrank. Was mache ich denn da wieder? Während ich versuchte, angestrengt auf den Weg zu achten und die Abgründe zu ignorieren, war ich wieder etwas ärgerlich mit mir. Was für eine Scheißidee das war. Und warum eigentlich? Für ein paar coole Fotos? Bin ich jetzt Möchtegern-Infuencer? Muss ich Mutproben machen? Ne. Ich muss da nur durch. Es war dann auch nicht so schlimm wie befürchtet. Ich kam erstaunlich zügig durch die Stellen und das alles ohne Hilfe durch Stöcker, wie sie die meisten der Wandergenossen benutzten. Und ich konnte sogar diese Passagen einigermaßen genießen, da viele Ecken wirklich wie gemalt waren.
In etwas über zehn Minuten hatte ich dann das Ende der Umleitung erreicht. Direkt hinter der Umleitung war die Halbzeitmarkierung, an der sich eine anständige Raststation befand. Diese war mit dem Auto erreichbar. Hier schienen sich ein paar weitere Wanderer haben absetzen lassen, von denen ich ein halbes Dutzend auf der zweiten Hälfte der Strecke überholt habe. Und langsam kam auch der Gegenverkehr. Lauter fröhlich grüßende, zumeist ziemlich alte Herrschaften, die mich meist mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid ansahen. Ich musste aber auch mittlerweile ein gutes Bild abgeben. Gefühlt hatte ich mehrere Liter geschwitzt und ich konnte mir schon relativ viele Salzränder aus dem Gesicht reiben. Ein Blick auf die Uhr verriet aber: Etwas über drei Stunden habe ich für die erste Hälfte gebraucht. Das war deutlich schneller als ich gehofft hatte.
An der Raststation gab es nicht nur eine Toilette (Wer möchte schon in den Wald pinkeln?), einen Automaten mit eisgekühlten Getränken (Und ich Trottel schleppe zwei Kilo Flüssigkeit den Berg hoch...), sondern ich traf auch die enteilten Wanderer wieder, die hier ihre Mittagspause abhielten. Sie diskutierten gerade darüber, was sie denn so für Sport machen. Spätestens als dann die Rede von Ultra Marathon und Mountain Running war, dachte ich nur noch: Was für Streber. Wir tauschten noch ein wenig Schokolade, der asiatisch aussehende Australier erzählte mir, dass er Walter heißt. Und dann musste das Kommando Attacke auch schon wieder weiter. Ich aß in Ruhe meine Banane, trank mein selbst hier hoch geschlepptes Wasser und horchte in mich. Keine Frage, ich war körperlich an meinen Grenzen. Aber wenn es jetzt keine allzu harten Passagen mehr gibt, komme ich an's Ziel. Und zwar deutlich vor Sonnenuntergang. Ein Blick auf das Höhenprofil der Strecke sagte außerdem recht deutlich: Von hier an ist Umkehren die anstrengendere Variante. Ein gutes Gefühl. Ich machte ein Video vom Wasserlauf hinter der Pausenhütte:

Danach schnaufte ich nochmal ordentlich durch und machte mich auf den Weg. Angenehmerweise ging es nun erstmal ein paar hundert Meter die asphaltierte Straße entlang. So konnten die ausgelaugten Beine wieder gut in Schwung kommen. Und schön war es auch noch:

Nach ein paar Schlenkern wiesen gut sichtbare Wegweiser darauf hin, dass es nun an der Zeit ist, die Straße zu verlassen. Es gab wieder alte, schiefe Steinstufen bergab und schon nach wenigen Metern war die Zivilsation wieder vergessen. Der Wald änderte sich ab hier deutlich. Auf der ersten Hälfte prägten eher alte, riesige Nadelbäume das Bild. Nun wurde es eher tropischer Regenwald. Die Hänge rechts und links der Strecke waren zugewuchert, alle war feucht, die Pflanzenarten wurden deutlich vielfältiger und es mussten nun regelmäßig kleinere Flüsschen gekreuzt werden. Die Strecke war nun ein dauerndes Auf und Ab. Da es aber immer nur kurz war, war es nicht im Ansatz so anstrengend wie der Beginn der Strecke. Hier ein halbwegs passender Eindruck:

Ich war allerdings mittlerweile in einer Art Autopilot unterwegs. Die Erschöpfung wurde schlimmer und schlug langsam auch auf die Psyche. Jetzt ging es wirklich nur noch darum, einen Fuß vor den anderen zu setzen, gleichmäßig zu atmen. Und vielleicht nebenher ein wenig die Landschaft zu genießen. Das alles war keineswegs unangenehm, aber langsam aber sicher durfte es jetzt auch mal aufhören.
Mit besonderer Freude nahm ich nun jede Wegmarkierung zur Kenntnis. Wie klein die Kilometerzahl bei Nachisan mittlerweile geworden ist, herrlich! Der Regenwald hörte langsam auf und es wurde wieder deutlich nadellastiger. Ich musste mich langsam darauf konzentrieren, sauber weiter zu gehen und nicht einfach nur den Oberkörper nach vorne zu kippen und die Beine irgendwie nachzuziehen. Wenige Kilometer vor dem Ziel konnte ich dann den freundlichen Dänen wieder einholen. Er hatte eine gemütliche Fläche mit Flechten und kleineren Nadelgewächsen genutzt, um sich eine ordentliche Portion Tofu reinzuschaufeln. Ich gesellte mich zu ihm und wir zogen dann zusammen weiter. Auch er wirkte etwas angeschlagen. Allerdings nicht im Ansatz so wie ich. Und er hatte ja auch schon drei Etappen mehr in den Knochen. Und so taumelten wir gemeinsam dem Wasserfall entgegen.
Japans schönste Raststätte
Kaum waren wir nach seiner Raststelle um die nächste Ecke gebogen, sahen wir die eigentliche Raststätte. Ein kleiner Unterstand an einer Stelle, an der es in früheren Jahrhunderten mal ein Teehaus gegeben haben soll. Mit einem der besten Ausblicke, die ich je gesehen habe. Ich habe meinen Leidensgenossen natürlich nur ganz wenig dafür ausgelacht, dass er sein Tofu lieber auf einer beliebigen Wiese als an diesem Ort gefutter hat. Er fand's auch ganz lustig. Natürlich haben wir da nochmal kurz Pause gemacht. Ich habe den ekelhaften Energieriegel heruntergewürgt und mit einem halben Liter Poccari Sweat den Nachbrenner gezündet. Jetzt geht es aber wirklich endlich zum Wasserfall.
Wenig später erreichten wir den ersten Parkplatz des Wasserfalls. Wir waren richtig euphorisch. Zum Glück wussten wir nicht, dass es von hier nochmal fast zwei Kilometer sein sollten. Etwa die Hälfte davon ging es eine Treppe herunter. Hier waren die Steinstufen ausnahmsweise gleichmäßig und sehr gut in Schuss. Aber meine Muskeln und Gelenke teilten mir nun bei jedem Schritt mit, wie super sie die Aktion fanden. Mein T-Shirt bestand mittlerweile fast mehr aus Salz als aus Shirt. Zum Glück hat niemand beim Anblick von uns Höhlenmenschen die Polizei gerufen. Nach noch ein paar weiteren Schlenkern und kleineren Treppen waren wir dann auf der Anlage des Tempels. In sogar knapp unter sechs Stunden und noch bei vollstem Tageslicht waren wir überglücklich am Ziel angekommen.
Da ist das Ding!
Ich hatte nicht nur ein paar Liter Flüssigkeit und einige im Nachhinein völlig überflüssige Dinge mitgeschleppt, sondern zum Glück auch an mein Goshuin-Büchlein gedacht. Den konnte ich mir nun abholen und dann ging es zur Pagode. Die sieht dann in echt eigentlich wirklich haargenau so aus, wie man sie auf den Fotos kennt. Und da standen wir nun vor und glotzten zufrieden. Das Gefühl war irgendwie etwas surreal. Ich versuchte mich zu erinnern, wie das war, als ich das Bild von Pagode und Wasserfall vor einigen Jahren das erste Mal gesehen habe. Und jetzt stehe ich nach unfassbar anstrengender Wanderung davor. Und ich dachte an die vielen Momente des Zweifelns, ob ich die Wanderung wirklich machen soll. Und auch wenn es tatsächlich noch anstrengender als befürchtet war, würde ich es jederzeit nochmal machen. Und weil es so unfassbar schön war, habe ich natürlich noch ein Video gemacht:

Fremde unter Fremden
Es gab allerdings auch noch eine unerwartete Erkenntnis. Auch wenn die Tempelanlage und der Wasserfall wirklich märchenhaft schön waren, so richtig genießen konnte ich es irgendwie nicht. Schön war, toll sah es aus. Aber irgendwie halt auch egal. Die Eindrücke der Wanderung überstrahlten selbst diesen wunderbaren Ort. Der Kampf den Körperbrecher hinauf. Die unglaubliche Ruhe ganz alleine im Wald. Der unbeschreibliche Geruch nach Moos. Diese tausenden, verdammten Treppenstufen. Und diese Mischung aus totaler Erschöpfung und Zufriedenheit über die eigene Leistung, die ich ansonsten eigentlich nur von Sportwettkämpfen kenne. Und jetzt stehe ich da, erschöpft, verschwitzt und stinkend zwsichen all diesen Touristen, die mit Auto und Bus hier her gereist sind. Die sich schick herausgeputzt haben und jetzt in energischem Schritt mit Wanderstöcken über die Anlage wackeln. Später im Bus habe ich mit den anderen Wanderern darüber gesprochen, die hatten auch genau das Gefühl. Entsprechend haben wir uns auch alle gar nicht lange auf der Anlage aufgehalten. Keiner hatte Bock, noch auf die Pagode oder die Aussichtsplattform vom Wasserfall zu klettern. Wir haben genug Treppenstufen gesehen. Und vielleicht auch einfach generell genug gesehen für einen Tag. Also ging es in den nächsten Bus in Richtung Nachi Station. Dort angekommen löste sich unsere lose Gruppe dann auf. Wir wünschten uns noch einen tollen Urlaub. Für mich ging es wieder zurück in die Pension Hase. Auf dem Weg holte ich noch ein paar Heilgegenstände (Bier! Kekse!) aus dem Conbini. Und nach dem Verzehr schlief ich auf dem Futon völlig zerstört, aber glücklich ein.
Beim Auschecken am nächsten Morgen erzählte ich dem Herbergsvater, dass ich den Körperbrecher gewandert bin und dass es super war. Er tat sehr ungläubig. Vermutlich weil er es tatsächlich war. Die Erkältung ist erstaunlicherweise nicht schlimmer, sondern wirklich besser geworden. Zwar immer noch etwas nervigen Husten, aber ansonsten alles gut. Dafür hatte ich einen Muskelkater wie lange nicht mehr. Die Schmerzen im linken Bein waren auch vier Tage später noch ziemlich fies. Entsprechend verzichtete ich auch darauf, Shingu noch weiter zu erkunden. Das hätte sich vermutlich gelohnt, dort gibt es mindestens einen richtig tollen Schrein und eine Burgruine. Aber meine Beine wollten nicht herumlaufen. So setzte ich mich in den nächsten Zug Richtung Osaka und bummelte mehrere Stunden die wunderschöne Pazifikstrecke entlang in die Großstadt. Am Hauptbahnhof in Osaka hat mich dann der Schlag getroffen. Was für viele Menschen! Wie laut und hektisch. Und bunt. Und, aaaah! Ich konnte mich aber schnell wieder dran gewöhnen. Nach dem Einchecken im Hotel habe ich noch einen kurzen Abstecher nach Dotonbori gemacht und bin dann früh schlafen gegangen. Über Osaka und Dotonbori gibt es dann morgen mehr. Unten noch die restlichen Bilder vom Kumano Kodo.
Bildergalerie
Kommentare
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Am 14. November, 04:27 Uhr (Japan), 13. November, 20:27 Uhr (Deutschland)Respekt! Ich meine ja wer Fotos macht ist nicht wirklich erschöpft.....Am 14. November, 09:31 Uhr (Japan), 14. November, 01:31 Uhr (Deutschland)Ertappt! Die Geschichte zu den Bildern ist natürlich wie immer frei erfunden. Neben den alten Stufen gibt es eine vollklimatisierte Rolltreppe, mit der man gemütlich den Berg hochrollern kann. Aber sag's bitte nicht weiter!
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Am 15. November, 02:57 Uhr (Japan), 14. November, 18:57 Uhr (Deutschland)Was für eine großartige Tour! So beeindruckende Fotos! Ich kann richtig nachempfinden, wie du dich gefühlt hast. Warst ganz schön mutig!Am 15. November, 22:04 Uhr (Japan), 15. November, 14:04 Uhr (Deutschland)Aber nicht so mutig wie Ihr mit Euren Touren... ;-)